Dienstag, 22. Mai 2012

Gefährlicher Pillenmix


Gefährlicher Pillenmix

Bremer Arzneimittel-Experte: Vor allem ältere Menschen leiden an permanenten Neben- und Wechselwirkungen

Medikamente helfen – doch nur in der richtigen Dosis. Vor allem ältere Menschen, die mehrere Mittel einnehmen müssen, sollten vorsichtig sein. Es drohen Überdosierungen sowie Neben- und Wechselwirkungen, die gefährlich sind.

VON S. MAURER

Bremen. Mehr als die Hälfte aller Rezepte in Deutschland wird für Menschen über 60 Jahre ausgestellt. Durch die Kombination mehrerer Medikamente miteinander kann es zu unerwünschten Folgen kommen. „Manche Menschen leiden dauerhaft unter Nebenwirkungen und merken es gar nicht, weil sie sich daran gewöhnt haben“, sagt der Arzneimittel-Experte Professor Gerd Glaeske von der Universität Bremen. Nach Auskunft der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) in Hamm wird außerdem die Gefahr einer Medikamentensucht unterschätzt.

Das erste große Problem: Medikamente wirken bei älteren Menschen anders als bei Jüngeren, es kann schneller zu Überdosierungen kommen. Denn die Wirkstoffe werden langsamer aufgenommen und bleiben länger im Körper. Dies liegt zum einen am Stoffwechsel. Außerdem sorgt der geringere Wassergehalt für ein dichteres Gewebe, in das die Wirkstoffe nicht so leicht eindringen können. „Das ist vor allem bei Schlaf- und Beruhigungsmitteln relevant, ihre dämpfende Wirkung hält länger an“, erklärt Rüdiger Holzbach, Chefarzt der Abteilung Suchtmedizin der LWL-Klinik in Warstein und Lippstadt.

Medikamente werden aber an jüngeren Menschen getestet, nach diesen Erfahrungen richtet sich die empfohlene Dosis auf dem Beipackzettel. Diese Praxis bei den Zulassungsstudien hat ihren Grund: Die Probanden sollen „gesunde Kranke“ sein, also nur an der Erkrankung leiden, gegen die das Medikament helfen soll. Andernfalls könnte das Testergebnis dadurch verzerrt werden.

„Auch die Ärzte befinden sich da manchmal im Blindflug“, sagt Glaeske. „Sie müssen sich auf ihre eigenen Erfahrungen verlassen.“ Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) empfiehlt, ab dem 65. Lebensjahr die Dosierung um zehn Prozent und ab dem 75. Lebensjahr um 20 Prozent zu senken. Für jede weitere Dekade solle um weitere zehn Prozent reduziert werden. Dies ist allerdings nur eine Faustformel, wichtige Faktoren für die individuelle Dosierung sind unter anderem das Körpergewicht und der allgemeine Gesundheitszustand.

Mehrere Erkrankungen gleichzeitig

Etwa jeder zweite Ältere über 65 Jahre leidet mindestens an einer weiteren Erkrankung, auch das führt beim Thema Medikamente zu Problemen. „Es gibt Leitlinien für die Behandlung einer Krankheit. Aber was machen wir mit jemandem, der mehrere Erkrankungen hat?“, gibt Glaeske zu Bedenken und fordert Studien zur Kombination einzelner Medikamente.

Zudem gehen die Menschen wegen ihrer verschiedenen Krankheiten meist auch zu mehreren Ärzten. Jeder verschreibt das Medikament, das aus seiner Sicht das Vernünftigste ist. Die unterschiedlichen Behandlungen werden in der Regel aber nur selten koordiniert. Die Wechselwirkungen der einzelnen Präparate sind laut Glaeske aber nicht zu unterschätzen, zudem steige bei der Einnahme mehrerer Mittel das Risiko für Nebenwirkungen. Nikotin und Alkohol machten die Sache noch schlimmer. Laut Glaeske wird rund jeder zehnte Ältere wegen Neben- oder Wechselwirkungen ins Krankenhaus gebracht.

Relevant sind nicht nur die rezeptpflichtigen Medikamente, sondern auch freiverkäufliche Arzneien aus Apotheke und Drogerie. „Die muss man sich ebenfalls kritisch ansehen“, erklärt Holzbach. Aspirin etwa könne zu Magenblutungen führen. Und auch pflanzliche Präparate seien in der Kombination mit anderen Mitteln nicht ungefährlich. So sorge etwa Johanniskraut, das gegen depressive Stimmungen helfen soll, in höheren Dosierungen für einen schnelleren Abbau von Medikamenten.

Zu großen Problemen können Schlafmittel führen: Anfangs helfen sie noch, mit der Dauer der Einnahme gewöhnt sich der Körper aber daran und die Wirkung lässt nach. Wird die Dosierung erhöht, kommt es zu Nebenwirkungen wie Konzentrationsstörungen und Abgeschlagenheit. Der Betroffene sieht dies als Alterserscheinung oder schiebt es auf den fehlenden Schlaf, nicht jedoch auf das Medikament. Das nimmt er weiter ein und erhöht sukzessive die Dosis. Auch bei anderen Medikamenten können die Nebenwirkungen gravierend sein. Im schlimmsten Fall können etwa Leber und Nieren für immer geschädigt sein.

Auch ein weiteres Risiko wird unterschätzt: die Abhängigkeit von psychoaktiven Medikamenten. „Die Gefahr ist hoch“, sagt Christa Merfert-Diete von der DHS. Die meisten Medikamente, die süchtig machen können, enthalten einen Wirkstoff aus der Gruppe der Benzodiazepine. Sie werden zum Beispiel bei Angst, Schlafproblemen und zur Muskelentspannung eingesetzt. Nicht immer ist aber die Einsicht in das Problem gegeben. „Viele sehen das Suchtpotenzial von Medikamenten gar nicht. Wenn das Beruhigungsmittel nicht mehr wirkt wie am Anfang, nehmen sie einfach mehr davon.“

Fachleute raten Senioren, sich die Namen von allen Medikamenten zu notieren und damit zum Arzt zu gehen. „Manche wissen gar nicht mehr, wofür sie welche Tablette überhaupt nehmen“, sagt Christa Merfert-Diete. Der Arzt sollte überprüfen, ob die Medikamente überhaupt noch notwendig seien, ob die Dosierung in Ordnung ist und ob sich die Arzneien miteinander vertragen.

Auf der Liste müssen auch die Arzneien notiert werden, die ohne Rezept in der Apotheke und in der Drogerie gekauft wurden. Ein weiterer guter Ansprechpartner ist der Apotheker. An ihn können sich auch Angehörige wenden, wenn sie sich zum Beispiel über den Medikamentenkonsum ihrer Eltern Sorgen machen.

© Copyright Bremer Tageszeitungen AG Ausgabe: Bremer Nachrichten Seite: 23 Datum: 14.05.2012

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